Donnerstag, 25. Juli 2013

PRISM, Harold Finch, Chuck Bartowski und die Notwendigkeit einer Übersetzung

Wir haben es ja alle schon immer geahnt:

"Headbone connected to the Neckbone/ Neckbone connected to the Armbone / Armbone connected to the Handbone / Headbone connected to the Internet /connected to the Google / connected to the Government"

So schallt es einem im Intro "The Message" der Platte "Maya" von M.I.A. entgegen. Das war 2010. Nun ist M.I.A. nicht dafür bekannt, eine differenzierte politische Haltung zu haben, sondern eher eine, sagen wir, sozialromantische, um nicht zu sagen naive. Ernst genommen hatte das damals niemand so recht. Jedenfalls niemand, der selbst ernst genommen wurde. Wer sich circa ein Jahr später die Serie "Person of Interest" von Jonathan Nolan und J. J. Abrams zu Gemüte führte, hörte dann regelmäßig folgenden Monolog der Hauptfigur Harold Finch im Intro (und konnte auch sicher bald mitsprechen):

"You are being watched. The government has a secret system: a machine that spies on you every hour of every day. I know, because I built it. I designed the machine to detect acts of terror, but it sees everything. Violent crimes involving ordinary people; people like you. Crimes the government considered 'irrelevant'. They wouldn't act, so I decided I would. But I needed a partner, someone with the skills to intervene. Hunted by the authorities, we work in secret. You'll never find us, but victim or perpetrator, if your number's up: we'll find you".
Beruhigend klingt eigentlich anders. Was in den Neunzigern noch "Akte-X-Paranoia" hieß, muss in den Nullerjahren und wie auch immer unsere Jetztzeit heißt anders genannt werden. "Person of Interest" bringt diese neue Paranoi auf den Punkt - mit einem Twist. Denn was Harold Finch und seine Exekutive, Ex-CIA Mann John Reese, veranstalten, ist Vigilantentum durch die Hintertür. Was Finch, ein humpelnder Millionär, der einsam in einer Bibliothek lebt, einst als "The Machine" für die Regierung (wer oder was auch immer das ist) konstruierte: Er wollte nicht, dass es für ihre Zwecke benutzt wird (vordergründig: Big Data Korrelationen zur Verhinderung von Terrorismus). So baute er sich eine "Backdoor" in das System ein, in dem die Maschine ihm eine Sozialversicherungsnummer ausspuckt für irgendjemanden der oder die demnächst in ein Verbrechen verwickelt sein wird. Finch und Reese versuchen, dieses Verbrechen, das noch nicht geschehen ist, zu verhindern Linda wies mit einigem Recht darauf hin, dass das Ganze doch sehr paternalistisch daher käme, klar. Was Reese und Finch im Kleinen machen, das machen alle Aniterror-Menschen, die auf der Grundlage von Big Data operieren im vermeintlich Großen: Alles auf Verdacht, alles, bevor es passierte. Minority Report trifft Batman, das trifft es eigentlich ganz gut. Und so bildet "Person of Interest", ein Narrativ, das selbst bisher nur Verdacht, also eher fiktiv, war, die Janusköpfigkeit dieses Vorgehens ab: Paranoia heißt nicht nur Angst vor Überwachung und Verschwörung gegen die Person (des Interesses), sondern auch die Angst vor dem, was passieren könnte, was sogar wahrscheinlich passieren wird, dass es passiert und dass es nicht verhindert wird.

Irgendwie macht es den Anschein, als würde niemand so recht begreifen, was Echolon, PRISM und Tempora eigentlich ist, was es bedeutet, und manchmal, wenn man in die Feuilletons, die wertgeschätzten, hineinlauscht, scheint es, als würde man sich das alles nur über Filme, Bücher, Serien und andere Bilder aus der Welt des Erzählten begreiflich machen können. Als würden George Orwell, Tony Scott, Jonathan Nolan oder Philipp K. Dick uns, ob Zeitgenossen oder nicht, irgendwie übersetzen können, was gerade in real life passiert, was schon länger passiert ist, aber jetzt vor uns steht wie ein unfassbar echter Albtraum. Und alle reagieren, wie man gegenüber soetwas halt reagiert: wie versteinert, weil man es echt nicht fassen kann.
Wenn Antonia Baum in der FAS gerne hätte, dass endlich jemand an ihrer Tür klingelt, der ihr auch hinterherspioniert, wie uns allen hinterherspioniert wird (uns allen, das muss man erstmal schlucken, allen. uns.), damit das alles ein Gesicht, einen Namen, etwas konkretes bekommt, dann ist das Ausdruck dieses diffus Unbegreiflichen, das zwar Projektnamen und eine irre Story hat, aber eben nicht begriffen werden kann, noch nicht.

Wir brauchen eine Übersetzung.

Aber Harold Finch ist eine schlechte Übersetzung. Nicht wirklich schlecht, aber eben auch nicht der Kern der Sache. Finch glaubt an die Emanzipation seiner Maschine im Rahmen der liberalen Ethik (sein Gegenspieler namens "Root" glaubt auch an die Emanzipation der Maschine, aber nach den Regeln der Maschine selbst - die weder Finch noch "Root" ganz begreifen). Beide denken in Problemen von Heute mit den Mitteln von Gestern (auch das, so scheint es, ein generelles Problem dieser Debatten über Maschinenmacht und -träume). Zwar glaubt auch sicher in der NSA der eine oder andere an die emanzipative Kraft ihres Programms, dass letztlich alle in Sicherheit frei und in Freiheit sicher leben können. Irgendwann. Aber was das mit uns zu tun hat, interessiert da anscheinend nicht. Wir sind eben keine interessanten Personen als Personen, sondern nur als Verdachtsmoment in einer großen Datensammlung. Insofern liefert "Person of Interest" doch einen interessanten Code: Alle sind zunächst eine Nummer aus dem System. Bei der NSA und ihrem Big Data werden wir es auch weiterhin bleiben, Finch und Reese sind auf der Suche nach der Geschichte zur Nummer. Strukturalismus reversed - und damit wieder etwas sozialromantisch.

Eine, zumindest für mich, ziemlich genaue Übersetzung dessen, was hier eigentlich, und sei es nur abstrakt, abläuft, wenn die Glasfaserkabel, vollgestopft mit unseren Nachrichten und Daten, angezapft, zu Daten gebündelt und Profilen, Stochastiken und Mustern verknüpft werden, liefert die Serie "Chuck" von Josh Schwartz, die von 2007 bis 2012 auf NBC ausgestrahlt wurde.
Chuck Bartowski ist ein normaler IT-Guy mit geringen Ambitionen, zwar gut ausgebildet aber im Geiste dem Slackertum verschrieben. Call of Duty zu spielen ist wichtiger als über die Ex-Freundin hinwegzukommen und etwas aus seinem Leben zu machen. Manche werden es "Nerd" nennen, die Serie tut es auch.
Doch Chucks Leben ändert sich, als ihm sein alter Erzrivale aus College-Zeiten, Bryce Larkin, eine E-Mail schickt. Bryce ist mittlerweile bei der CIA angelangt und stielt ein geheimes Intelligence-Programm namens "Intersect", in dem alle den Geheimdiensten verfügbaren Nachrichten und Wissensbestände in einen suggestiven Bildcode übersetzt wurden. Diesen Code schickt Bryce an Chuck, der sich so unwissend, nach Betrachten des Codes, als menschlicher Computer die "Intersect" ins Hirn brennt. Da Bryce die einzige "Intersect"-Kopie gestohlen hatte, wird Chuck so zum singulären Speichermedium des Programms: Nur er verfügt noch über das Wissen von CIA und NSA, nur er kann es, jedoch unfreiwillig, abrufen: In sogenannten "Flashs" erkennt Chuck auf einmal Gesichter, Details, Zusammenhänge, Hintergründe auf Grundlage der "Intersect"-Daten.
PRISM ist im Grunde nichts anderes als das "Intersect"-Programm: Eine größtmögliche Ansammlung von Daten und Zusammenhängen. Auch bei der "Intersect" kooperieren CIA und NSA gemeinsam. Um die "Intersect", und damit auch Chuck als Medium derselben, zu schützen, bekommt er mit Sarah Walker (CIA) und John Casey (NSA) zwei Beschützer an die Seite gestellt, die fortan Chuck auf ihre Missionen mitnehmen müssen, da nur er fortan über die nötige Intelligence verfügt. Interessant dabei, dass gerade John Casey als Verkörperung der NSA den patriotischen Konservativen gibt, der sich mit seinem Reagan-Portrait unterhält und immer wieder knurrend den Impuls verspürt, den Menschen Chuck Bartowski aus dem Weg zu räumen - wofür er auch mehrmals die Order erhält, sobald der Eindruck entsteht, das "Intersect"-Programm sei wieder in den Händen der Geheimmdienste. Sarah Walker hingegen wird das zentrale Love Interest der Serie und versucht mehrmals, sich und Chuck als liebende und fühlende, selbstbestimmte Menschen aus den formalen Strukturen der Geheimdienstarbeit, die sie nur notgedrungen angefangen hat, zu befreien. So wandelt die Figur Chuck in den Augen seiner Begleiter zwischen maschinellem Medium und empfindsamem Menschen daher. Chuck selbst will nur eines: Die "Intersect" loswerden und selbstbestimmt leben. - und lieben.
Warum ist nun "Chuck" so eine gute Übersetzung dessen, was im Angesicht von PRISM und Co. passiert? Auch Chuck wird Opfer der Intelligence-Arbeit von NSA und CIA: Dadurch, dass er, in einem nun interessanten Twist, über alle Informationen verfügt, die NSA und CIA besitzen (und nicht, wie bei PRISM, diese alle Informationen über normal guys wie Chuck), wird er zu deren Spielball - nicht als Mensch, sondern als Informationslieferant. Die Geheimdienste interessieren sich für die Daten, die er liefert, aber nicht dafür, was dieses Interesse mit seinem Leben macht. 
Als IT-Guy der "Nerd Herd" hat Chuck ein pragmatisches, alltägliches Verhältnis zu Informationstechnologie. Mehr noch: Er repariert dieses. Was erst unspektakulär klingt, wird im Kontrast schärfer: Chuck nutzt Maschinen nicht aus, sondern hält diese am Laufen. Er ist nicht das Ende der Kommunikationstechnologie, sondern er restauriert sie. 
Der andere interessante Punkt ist, dass Chuck immer darum bemüht ist, sich von der "Intersect" zu emanzipieren. Erst, wenn der Computer, wenn die Daten aus seinem Kopf verschwunden sind, kann er Sarah, und mit ihr die CIA, überhaup terst lieben. Wenn die Maschine, die Datensammlungen, das Formale und Funktionale aus dem Menschen gestrichen werden, bleibt so nur noch der Mensch Chuck - Telos dieser ganzen Heldenreise, die zwischen Nerd-Märchen und -Albtraum changiert: Der Mensch mit seinem Leiden, seinem Lieben, seinem Sehnen und seinem Alltag - der Mensch also, der die NSA und die CIA, der die Algorithmen und Server überhaupt nicht interessiert.
Will der Big Brother (ein übrigens schlechtes Behelfsbild für PRISM) geliebt werden? Dann kann er nur von Menschen geliebt werden. Das lehrt "Chuck", wo jederzeit der Mensch der Maschine und der Datenmenge vorgezogen wird. Auch das ist alles vielleicht romantisch, humanistisch, gedacht. Aber es sagt letztlich viel darüber aus, und hat vielleicht das zentrale Problem dessen vorausgesehen, was die Reduzierung der Person auf Daten mit uns anstellt, was sie vergisst und was sie nicht wissen kann - weil sie es nicht wissen will. Und was sie dadurch verliert: Den Menschen selbst.


Sonntag, 21. Juli 2013

Eine Falle für Prof. Dr. Bernd Lucke

Als vor einigen Wochen die Sommerpause nicht nur wettertechnisch, sondern auch redaktionell über uns ganz offensichtlich hereinbrach, entschloss sich die Feuilleton-Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) in einem grandiosen Coup, ihre Arbeit auf Politiker abzuwälzen, die einen Fragebogen mit dem rührend emphatischen Titel "Was sehen, hören, lesen Sie?" auszufüllen die Muße fanden. Dort wurde nach Lektüren von Rainald Goetz ebenso gefragt wie nach lebensverändernden Filmerlebnissen und der Haltung zu Hedi Slimanes Logo-Kürzung bei Yves-Saint-Laurent. Soweit, so bieder. Die Seiten, die sich so fast ohne Zutun redaktionellen Inhaltes mit den immergleichen Fragen und den immer langweiligeren Antworten füllten, lasen sich an einem verkaterten Sonntag (der von mir erst in der Bar Ludwig, dann im Blow Up eingeleitet wurde) ganz hervorragend und mit genau der intellektuellen Anstrengung, die einem Post-Bier-Frühstück angemessen schienen. 
Es sollte sich doch eine Woche später herausstellen, dass das ganze eine Falle war. Nicht für Peer Steinbrück, dessen Einsilbigkeit geradezu trademarkmäßig einschlug, auch nicht für die praktizierende Protestantin Katrin Göring-Eckardt, die ihr Leben zwischen der Lektüre von "loslabern" und Kirchentagliedern erschreckend formidabel einzirichten scheint. Die Falle, die gestellt wurde, galt einzig und allein Prof. Dr. Bernd Lucke von der "Alternative für Deutschland" (AfD).
Mir jedenfalls fiel Luckes Antwortschema genug aus dem Rahmen, um kurz über den Kaffeerand aufzuschauen. Lucke brauchte also keinen Ratgeber, und wenn dann Loriot. Lucke heißt also nicht Claudia Roth, weil noch nie ein Film sein Leben verändert hat. Lucke findet es schwierig, Millionär zu werden und spielt in seiner Partei erste Geige. Und dann sind auf Kirchentagen auch noch alle wirtschaftswissenschaftliche Geisterfahrer. Okay, soweit, so langweilig. Der wird sich nicht viel dabei gedacht haben, denke ich mir, wenn er denn nicht so wie ich nicht allzuviel geschlafen hatte. Kommt vor, gerade im Wahlkampf. Da kann man sich auch mal schön in den Garten setzen und einem etwas ausgestanzten Fragebogen mit pennälerhafter Spitzfindigkeit entgegentreten. Hat der ja auch so gewollt. Oder?
Eben nicht. 
Eine Woche später, am 7.7.2013, veröffentlichte Timo Frasch in der "Meinungs" Sektion seine Meinung, und die lautete: "Nein, diesen Lucke wähl ich nicht". Und warum wählt Frasch diesen Lucke nicht? Weil er sich so arrogant und besserwisserisch in diesem Fragebogen der FAS verhalten hat. Gut, das ist halt eine "Meinung". Aber auf der nächsten Seite, die den Meinungen der Leser*innen überlassen wird, war ein Leserbrief mit fast haargenau gleichem Inhalt zu entdecken.
Gut, da musste etwas dran sein. Und es ist ja auch Wahlkampf. Lucke musste das wissen. Frasch wusste das. Die Leserbreifschreiber*innen wussten das. Wusste Lucke es nicht? Konnte er nicht ahnen, dass ihm eine falsche, eine blöde, eine hochnäsige oder abwegige Antwort Stimmen kosten würden? Nun wissen wir nicht, ob Frasch oder die Leserbriefschreibenden zuvor ihr Kreuz ganz sicher bei der "AfD" gemacht hätten. Aber wie viele Redakteure, wie viele nichtartikulierte innere Leserbriefe an Lucke und sein Antwortverhalten werden ähnlich gedacht haben wie Frasch? 
Nun muss man Lucke sicher nicht in Schutz nehmen vor dem Feuilleton der FAS oder ihren Politikredakteuren, schon gar nicht vor einem Leserbrief. Dass harmlose Fragen jedoch nicht nur harmlose Antworten hervorbringen, so unbedarft sie auch gestellt, so albern sie auch beantwortet werden mögen, das war das eigentlich Perfide an einem Fragebogen mit dem rührend emphatischen Titel "Was sehen, hören, lesen Sie" - dass er unterschwellig immer mit "Wen mögen, schätzen, wählen wir" übersetzt wird.

Wir vom Ansagenfeuilleton

Wir vom "Ansagenfeuilleton" (Rainald Goetz) werden es uns zur Aufgabe machen, kein Wischi-Waschi in die Welt zu posaunen, sondern wir machen Ansagen: Wie es läuft, wie es ist, wie es sein sollte, was man haben muss, was zu wissen ist, wie man sich zu verhalten hat und was einen interessieren müsste. Punkt. Keine Ironie. Kein Labern. Einfach los, drauf. Auf: Den Punkt.

Bleiben Sie dran, es wird spannend.